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Administrative ZwangsmassnahmenUnmenschlichkeit mit System – über Jahrhunderte

Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden die Berner Gassen von Gefangenen in Zwangsarbeit gereinigt.

Sie bauten die Stadtmauern, später rissen sie sie wieder ab. Sie zogen strassefegend durch die Stadt – und im Umland dienten sie als billige Arbeitskräfte auf den Bauernhöfen. Menschen am Rand der Gesellschaft wurden jahrhundertelang teils unter widerwärtigen Umständen ausgebeutet. Heute wird das Thema der Verdingkinder breit aufgearbeitet. Zahllose Minderjährige wurden bis in die 1960er-Jahre in die Landwirtschaft vermittelt, heute bemüht sich die Eidgenossenschaft um Wiedergutmachung.

Auf Initiative von Walter Zwahlen, dem ehemaligen Präsidenten der Organisation Netzwerk-verdingt, hat Daniel Schläppi einen Stadtrundgang entwickelt, der in der Stadt Bern die Narben der administrativen Zwangsmassnahmen aufzeigt. Er fasst das Thema weiter – denn es war bei weitem nicht ein System, das sich auf die ländlichen Gebiete beschränkte. Die Zwangsarbeit führt auch weit in die städtische Geschichte zurück. Sie hatte Tradition.

Menschen waren ein Kostenfaktor

«Der Begriff administrative Zwangsmassnahmen ist meiner Meinung nach irreführend. Er suggeriert ein anonymes Verwaltungsbürokratiewesen als Täterschaft. Tatsache ist, dass die Praxis im Versorgungswesen bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht», sagt Schläppi. Den Nährboden dafür bot die grosse Selbstverantwortung der Gemeinden, wo Dorfeliten in Milizbehörden das Vormundschaftswesen besorgten und über Schicksale entschieden. Sie waren zuständig für das Armenwesen – und sind es mancherorts noch heute.

Weil in der Schweiz bis weit ins 19. Jahrhundert keine direkten Steuern erhoben wurden, fehlte das Geld. Und so wurden Menschen am Rand der Gesellschaft erst einmal als Kostenfaktoren gesehen.

Daniel Schläppi betont auf seinem Stadtrundgang «Kehrseiten» die Kontinuitäten in der Geschichte der administrativen Versorgung.

Dass für Randständige stets die günstigste und nicht die beste Lösung gewählt wurde, war bis vor wenigen Jahrzehnten die Regel. Am billigsten kam es, wenn die Kinder arbeiteten. Das Schicksal etwa der Verdingkinder auf den Bauernhöfen ist in dieser Ausgangslage angelegt. «Das Verdingwesen geschah nicht verborgen in Amtsstuben. Alle wussten davon, man muss von einer Kollektivschuld der Gemeinschaft sprechen», sagt Daniel Schläppi.

Kinderarbeit war nicht die einzige Form der Zwangsarbeit. Auf der Fussgängerpasserelle beim Bahnhof am Bollwerk zeigt Daniel Schläppi in Richtung Schützenmatte. «Hier stand das Schellenhaus.» Bis zu 180 Menschen waren hier interniert, und zwar ausschliesslich nicht burgerliche Gefangene. Nebst Schwerverbrechern auch «Arbeitsscheue», Alkoholiker, Ehebrecherinnen. Bernburger mit denselben Problemen waren in einem Nebengebäude des Burgerspittels, in der «Spinnstube» im «Hinteren Falken» untergebracht.

Verpfiffen und weggesperrt

Gefangene errichteten etwa die Stadtmauer oder waren am Bau von Bahndämmen beteiligt. Schläppi zeigt eine Illustration, auf der angekettete Frauen die Strasse reinigten. Nicht die Tatsache, dass Menschen im Strafvollzug eine Arbeit für die Allgemeinheit leisteten, ist stossend. Sondern die Gründe, weshalb Menschen dazu gezwungen wurden. Leute wurden weggesperrt, weil sie aufgrund ihrer Biografie nicht genehm waren, weil sie unehelich geboren wurden, «manchmal auch bloss, weil jemand sie angeschwärzt hatte», sagt Daniel Schläppi.

Das Schellenhaus stand am Stadtrand von Bern. Im Hintergrund die Grosse Schanze.

Der Rundgang beinhaltet auch Überraschendes. Eine Station ist das ehemalige Waisenhaus, wo heute die städtische Polizeiwache untergebracht ist. «Viele denken, dass es sich um eine soziale Institution gehandelt hat, aber das ist nur die halbe Wahrheit», sagt Schläppi.

Das Waisenhaus nahm nur sehr selektiv Kinder auf. Sie mussten von «ehelicher, ehrlicher und burgerlicher Geburt» sein und sollten nicht mit «Bastarden, Fündelenen und der gleichen aussert der Ehe erzeugten Kinderen» gemischt werden, wie ein Reglementsentwurf von 1746 festhielt.

Es ging hier darum, die Nachkommen der Burgerschaft vor dem sozialen Abstieg zu bewahren und zu bilden. Sie sollten sich nicht mit der marginalisierten Gruppe vermischen. Das Waisenhaus reproduzierte die Gegensätze der Ständegesellschaft. Illegitim geborene Kinder wurden im Umland verdingt.

Zahnkontrolle bei einem Verdingmädchen durch den Armeninspektor, 1940. Die Fotos von Paul Senn brachte den Berner Umgang mit den Marginalisierten ins Bewusstsein der Gesellschaft.

Schläppi wirft auf dem Rundgang auch einen Blick auf die Gegenwart. An der Predigergasse ist das Amt für Erwachsenen- und Kinderschutz. In den letzten Jahrzehnten hat im Umgang mit Menschen aus belastetem Umfeld eine umfassende Professionalisierung stattgefunden. Für ihn ist aber auch sie zweischneidig: Einerseits gebe es Massnahmen aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse. Andererseits bleibe das Problem: «Wer einmal ein Fall auf einer Liste ist, kommt so schnell nicht wieder aus den Mühlen heraus.»

«Knechtedinget» vor dem Kornhaus

Wir sind am Kornhausplatz angelangt. Hier fand das «Knechtedinget» statt. Noch bis 1950 boten sich die unterprivilegiertesten Menschen der Gesellschaft öffentlich für den Dienst als Knecht oder Magd an. Eine Form des Menschenhandels. Wer Glück hatte, kam an einen Ort, wo seine Arbeitskraft zwar ausgebeutet wurde, er aber ansonsten ein würdevolles Leben führen konnte. Wer Pech hatte, wurde wie Vieh behandelt, geschlagen oder sexuell missbraucht. Mit seinen Fotoreportagen löste Paul Senn eine öffentliche Diskussion über die sozialen Missstände aus. 

In der «Berner Illustrierten» zeigte Paul Senn seine Fotos vom «Knechtedinget» vor dem Berner Kornhaus.

Die Verdingkinder sind also «nur» ein Aspekt eines ganzen Zwangsarbeitssystems mit jahrhundertelanger Tradition – wenn auch ein riesiges Unrecht, das zahlenmässige Ausmass spricht für sich.

Schläppi hat bereits Rundgänge mit Betroffenen durchgeführt. Für viele sei die eigene traumatische Geschichte mit Scham behaftet. Es sind Geschichten der Entmenschlichung und der Demütigung. «Auf dem Rundgang sind aber angeregte Gespräche entstanden», sagt Schläppi. Er hat den Eindruck, dass die Wiedergutmachung in Form von Geld für viele Betroffene gar nicht im Vordergrund steht. «Wichtig ist für sie, dass über das Thema gesprochen wird und die Menschen von heute von der damaligen Ungerechtigkeit erfahren.»

Stadtrundgang Kehrseiten. Nächste Rundgänge: 1. Mai, 15. Mai, 1. Juni, 5. Juni, jeweils 14 Uhr, Parkterrasse am Bahnhof Bern. Anmeldung an daniel.schlaeppi@bluewin.ch

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