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Kolumne «Fast verliebt»Endlich ADHS!

Eine Diagnose könne die Wendung zum Guten sein – oder eben auch nicht, meint Claudia Schumacher.

Mit gemischten Gefühlen entdecke ich in einer meiner Lieblingsbuchhandlungen ein neues Regal, das sich nur noch einem Thema widmet: ADHS bei erwachsenen Frauen. «Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S: Warum sie so besonders sind und was sie so stark macht», «Kirmes im Kopf: Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe»: Acht Regalreihen gefüllt mit Büchern einzig dazu, wow.

In den letzten Jahren hat sich in meinem erweiterten Bekanntenkreis gefühlt jede zweite Frau mit AD(H)S diagnostizieren lassen (nebenbei bemerkt: nur ein einziger Mann). Selten war eine Diagnose so in Mode. Sie beschreibt eine Mischung aus auffälligem Sozialverhalten, dauerndem Abgelenktsein, Unkonzentriertheit und – je nachdem, ob das «H» dabei ist – einem Schuss Hyperaktivität. Dabei ist es manchmal schwer zu sagen, wo es sich um eine Störung handelt und wo um die Beschreibung eines modernen Lebensstils. Halb am Handy, halb in der Wirklichkeit.

Natürlich kann so eine Diagnose die Wende zum Guten sein: Bei einer Kollegin war es die lang ersehnte Rettung in einem Kopfschlamassel, das sie nie verstand. Jetzt lernt sie, produktiver zu arbeiten und sich in ihren Beziehungen reifer zu verhalten. Gut für sie!

Für andere aber scheint die Diagnose ein Freibrief zu sein, endlich eine Erklärung dafür, dass sie sich immer schon so verletzend verhalten haben. Nach dem Motto: Deal with it, ich habe ADHS – was kann ich schon für mein Verhalten?

Die Beziehung eines Freundes von mir zerbricht gerade an dieser Einstellung. Seine Freundin, erzählt er mir, sei nie einfach gewesen, aber lange habe ihn das nicht grundsätzlich gestört. Er liebte sie, auch wenn sie manchmal launisch war oder sich in sozialen Situationen seltsam verhielt. Aber sie war eben auch unkonventionell und sensibel. Doch seit ihrer ADHS-Diagnose lebe sie ungeniert ihre schwierigen Seiten aus, sagt er. Sie gebe sich keine Mühe mehr, Verantwortung zu übernehmen oder sich zuverlässig um Dinge zu kümmern. Wenn er sie darauf hinweise, sage sie nur noch, sie sei «neurodivers»: Ihr Gehirn funktioniere eben anders.

In ihrem Leben läuft alles schief, aber sie kann nichts dafür. Ihre Beziehungen scheitern, und das liege daran, dass alle anderen sie besser verstehen müssten, sich aber keine Mühe gäben. Im Job lässt sie ständig Chaos ausbrechen, doch was soll sie tun. So ist sie halt! Sie hat es jetzt schwarz auf weiss. Kritisiert ihr Mann sie sachte, wird sie wütend: Er habe schliesslich kein ADHS, sie aber schon!

Es stimmt ja: Psychische Probleme sind so ernst wie physische. Was mich an eine Freundin erinnert, die seit Wochen einen Bandscheibenvorfall hat, der ihr höllische Schmerzen bereitet. Ich habe trotzdem kein einziges Mal erlebt, dass sie zu mir oder ihren anderen Freundinnen nicht nett war.