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Mamablog: Interview zu AutismusDie Welt mit anderen Augen sehen

Verträumt oder autistisch? Hochfunktionale Kinder mit ASS werden oft erst im Jugendalter diagnostiziert.

Sie denken, fühlen, verstehen, reagieren und interagieren anders – Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Unsere Autorin wollte mehr über das aussergewöhnliche Phänomen erfahren und hat darüber mit der leitenden Psychologin Bettina Jenny der Fachstelle Autismus der KJPP Zürich gesprochen.

Autistische Kinder mögen Mathematik, haben einen hohen IQ, spielen am liebsten allein, mögen keinen Körperkontakt und reden schlecht. So könnte man etwa die gängige Vorstellung von Menschen mit Autismus umschreiben. Inwiefern trifft das zu?

Na ja, bei dieser Vorstellung wird der sogenannte frühkindliche Autismus mit dem Asperger-Syndrom vermengt. Das muss man unbedingt differenziert betrachten, da wir es mit komplett anderen Lebensrealitäten zu tun haben.

Aber gerade diese Unterteilung nimmt man doch heutzutage gar nicht mehr vor, sondern spricht allgemein von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) – wozu man Entwicklungsstörungen mit unterschiedlichem Schweregrad zählt?

Aus rein wissenschaftlicher Perspektive betrachtet, ist das korrekt. Unter dem Begriff ASS werden tatsächlich schwer betroffene Kinder, die frühkindlichen Autismus (FA) haben, vielleicht geistig behindert sind und keine oder nur eine rudimentäre Sprache aufweisen, und der ETH-Professor mit dem Asperger-Syndrom (AS) zusammengefasst. Damit soll dem Gedanken Rechnung getragen werden, dass wir es bei ASS mit einem Kontinuum aus fliessenden Übergängen zu tun haben und nicht mit Störungsbildern, die sich klar voneinander abgrenzen lassen. Auch der Übergang zu Menschen ohne ASS ist fliessend. Das ist der Ursprungsgedanke des Spektrums. Dennoch würde ich gewisse Unterscheidungen vornehmen.

Weshalb?

Weil die Lebensrealität von Familien mit einem schwer autistischen Kind, bei dem jeder Entwicklungsschritt mühsam erlernt werden muss, selbstverständlich eine komplett andere ist als bei Eltern, die ein Kind mit Asperger haben, welches eine öffentliche Schule besucht und verhältnismässig gut integriert ist. Die Hochfunktionalen – wie wir sie nennen – auf dem Spektrum befinden sich ja mitten unter uns: in den Schulen, bei der Arbeit, auf dem Spielplatz.

Wie und in welchem Alter erkennen Eltern, ob ihr Kind Symptome und Verhaltensweisen aufweist, die dem autistischen Spektrum zugeordnet werden?

Bei schweren Beeinträchtigungen äussern gemäss Studien knapp 50 Prozent der Eltern im Kindesalter von einem Jahr erste Sorgen, 80 Prozent bis zum 18. Lebensmonat. Sie sind etwa besorgt, weil das Kind kaum lächelt und imitiert, wenig Gegenseitigkeit entsteht, nicht mit dem Finger zeigt oder nicht reagiert, wenn man es mit dem Namen anspricht. Sie beschleicht also ein diffuses Gefühl, dass mit ihrem Kind «etwas nicht stimmt». Bei Kindern hingegen, die keine allgemeine Entwicklungsstörung aufweisen, erfolgt eine Diagnose erst deutlich später.

Was fällt bei den sogenannten hochfunktionalen Kindern mit ASS auf?

Das ist unterschiedlich. Mit zwei, drei Jahren fällt Eltern vielleicht auf, dass ihr Kind anders spielt, zum Beispiel besonders konzentriert über komplexen Konstruktionen brütet oder sich auffällig für ein bestimmtes, aber nicht altersspezifisches Thema interessiert. Auf dem Spielplatz hingegen rasch zu weinen beginnt, wenn andere Kinder rumrennen und toben. Erst im Schulalter aber haben diese anderen Spielinteressen möglicherweise auch soziale Konsequenzen und führen zu einer erschwerten Integration. In diesem Fall dauert es länger, bis eine Diagnose erstellt wird – manchmal sogar bis ins Jugendalter.

«Je älter die Kinder allerdings werden, desto weniger besuchen sie die Regelschule.»

Wie wird eine ASS-Diagnose überhaupt erstellt, wenn die Verhaltensweisen oft doch so weit auseinanderliegen und sich deutlich voneinander unterscheiden?

Um das Phänomen einzugrenzen, sammeln wir verschiedene «Puzzleteile»: Zum einen reden wir ausgiebig mit den Eltern und dem näheren Umfeld des Kindes, mit Kita-Betreuern, Kindergärtnerinnen und Lehrpersonen etwa. Den Fokus legen wir bei der Befragung auch auf die ersten Lebensjahre und fragen nach, wann sich das Kind wie entwickelt hat. Zudem interessieren wir uns für Themenbereiche wie Sozialverhalten und Kommunikation, Ängste und rigide Verhaltensweisen, Spielverhalten sowie sensorische Besonderheiten. Ausserdem interagieren wir natürlich mit den Kindern und Jugendlichen – je nach Alter und Schweregrad der Störung in unterschiedlich vielen Sitzungen. Wir beobachten das Verhalten und achten dabei auf mögliche autistische Wahrnehmungsverarbeitungen und Denkweisen, die sich bei kognitiv «fitteren» und älteren Kindern deutlicher zeigen. Auf diese Weise erkennen wir das Phänomen nicht nur von aussen im Verhalten, sondern versuchen es auch zu verstehen. Aus all diesen Bausteinen ergibt sich letztlich die Diagnose.

Ist die ASS-Diagnose erst einmal erstellt, ergeben sich erst die Herausforderungen für die Eltern, oder?

Ihre Herausforderungen bleiben mehr oder weniger dieselben wie vor der Diagnose. Die meisten Eltern sind sehr erleichtert, weil das von ihnen wahrgenommene und vielleicht auch vom Kind erlebte «Andersein» nun endlich einen Namen trägt. Es ist zudem entlastend zu wissen, dass es auch noch andere Familien gibt, die mit dem Gleichen zu kämpfen habe. Selbstverständlich ist der Trauer- und Verarbeitungsprozess von Eltern mit schwer betroffenen Kindern, die wahrscheinlich nie eine Regelschule besuchen werden, enorm gross und dauert lange.

Es gibt aber durchaus auch eine Menge Kinder und Jugendliche mit ASS, die in einer öffentlichen Schule untergebracht sind. Ist das Ihrer Meinung nach sinnvoll oder bräuchten sie nicht eher eine angepasste Lernumgebung, um konzentriert lernen zu können?

Viele Kinder beginnen ihre schulische Laufbahn in einer Regelschule. Besuchen also beispielsweise einen regulären Kindergarten oder eine Primarschule, wo viele zusätzlich durch Heilpädagoginnen und Klassenassistenten unterstützt werden. Je älter die Kinder allerdings werden, desto weniger besuchen sie die Regelschule. Auf der Oberstufe finden sich geschätzt noch die Hälfte im Regelsetting. Es stellt sich also durchaus die Frage, wie gut die Volksschule unter den gegebenen Bedingungen – dazu zählen auch fachliche und finanzielle Ressourcen – und Kinder mit ASS zusammenpassen. Das liegt mitunter an der Klassengrösse oder an der sensorischen Überreizung der Kinder, oft aber auch an Kleinigkeiten, wenn sie beispielsweise Anweisungen nicht gemäss «common sense» verstehen oder mit Übergängen und Planänderungen nicht zurechtkommen. Aber auch an den Mitschülerinnen und Mitschülern.

Sie meinen an der Toleranz, die Mitschülerinnen und Mitschüler aufbringen können?

Genau. Die Toleranz ist in der Unterstufe meist grösser als in der Oberstufe. Aber es gibt auch Kinder mit ASS, die bereits sehr früh «geplagt», ausgegrenzt und ausgelacht werden. Viele erzählen davon aber erst viel später, manche sogar erst als Erwachsene.

Welche Therapieformen gibt es, um hochfunktionale Kinder mit ASS zu unterstützen?

Eine erste Intervention beginnt meist im schulischen Umfeld. Etwa durch Institutionen, welche die Lehrerschaft dabei unterstützen, den Unterricht Autismus freundlicher zu gestalten, sodass die Kinder ihre Stärken zeigen können und weniger an ihren Schwächen gemessen werden. Viele Kinder können von Ergotherapie oder Psychomotorik profitieren, bei denen der Fokus auch auf sozialen Kompetenzen, wechselseitigem Spiel oder Abwechseln liegt. Hinzu kommen Einzel- und Gruppentherapien sowie Beratungsstellen, welche die Eltern dabei unterstützen, das familiäre Zusammenleben anders zu gestalten und den autistischen Besonderheiten anzupassen.

Wie lässt sich das Leben zu Hause anders gestalten?

Das ist unterschiedlich und hängt davon ab, wo für das Kind individuell «Stress» entsteht. Grundsätzlich gilt aber für die meisten eines: das Leben vorhersehbarer zu gestalten. Gerade Kinder, die schlecht darin sind, Mimik und Gestik zu lesen, verstehen manchmal nicht, warum jemand so und nicht anders handelt. Deshalb geben wir den Eltern Strategien mit auf den Weg, um mehr Struktur in den Alltag zu bringen.

«Mit ihnen über ihre Interessen zu reden und zu diskutieren, wie sie Welt oder die sozialen Normen sehen, ist bereichernd.»

Wie schaut es eigentlich geschlechterspezifisch aus – sind hochfunktionale Mädchen wie Buben gleichermassen von ASS betroffen?

Da muss ich etwas ausholen. Grundsätzlich gilt der Satz: «Kennst du einen Asperger, kennst du einen Asperger». Die Profile sind einfach sehr unterschiedlich. Die einen haben zum Beispiel kaum Blickkontakt, die anderen wiederum viel zu viel, sie starren. Die sogenannte autistische Wahrnehmungsverarbeitung dahinter ist bei allen gleich. Wie sich die Verarbeitung an der Oberfläche zeigt, ist hingegen unterschiedlich. Die Mädchen, bei denen wir heute eine ASS erkennen, zeigen oft mehr soziale Signale als der typische Junge mit Asperger. Sie zeigen in der Regel also mehr Blickkontakt, mehr Gestik oder lächeln häufiger. Dies ist neben vielen Gemeinsamkeiten nur ein Aspekt von mehreren Unterschieden im Verhalten. Gemeinsam ist ihnen mit den Jungs, dass sie Aktivitäten und Interessen verfolgen, für die sie überdurchschnittlich viel Zeit aufwenden und in denen sie eine hohe Fertigkeit zeigen. Während altersspezifische Aktivitäten fehlen oder eine untergeordnete Rolle spielen.

Empfinden Kinder mit ASS ihre Situation eigentlich als beklemmend, oder gar als eine Not?

Manchen ist es egal, ob sie Freunde haben oder nicht. Ob sie ignoriert oder ausgelacht werden oder ihre Interessen mit niemandem teilen können. Anderen wiederum eben gar nicht. Sie leiden darunter, dass sie nicht verstanden werden. Gerade auch Kinder, die sich in ihrer sozialen Wahrnehmung etwas geöffnet haben und sich vergleichen, ist es nicht mehr egal. Was häufig erst in der Oberstufe passiert. Sie mögen sich selber nicht, trauen sich nichts zu oder können ihren Ansprüchen nicht gerecht werden.

Welche Faktoren sind ausschlaggebend, ob Kinder mit ASS später mal ein selbstständiges Leben führen können?

Das ist schwer vorhersehbar. Es gibt Jugendliche, die problemlos eine Matura schaffen. Hingegen an der Uni scheitern, weil plötzlich nicht mehr alles so strukturiert und vorhersehbar ist. Andere sind sehr kreativ und engagiert, bewältigen aber den Alltag nicht. Wieder Andere tun sich in der Schule schwer und blühen dann in der Lehre auf. Einige brechen aber auch angesichts der Anforderungen und Erwartungen zusammen und werden psychisch krank. Sie werden schwer depressiv, vielleich auch suizial oder entwicklen Panik- oder Essstörungen. Wieder andere haben einen Weg und vielleicht eine Nische gefunden und kommen ganz gut klar in unserer Gesellschaft.

Was schätzen Sie besonders an Menschen mit ASS?

Dass Menschen mit ASS sachlich denken und Klartext reden, während wir ohne ASS beispielsweise schneller mal mit unserem sozialen Ohr «die Flöhe husten hören» und etwas in eine Aussage hineininterpretieren. Zudem sind sie oft vertrauenswürdig, loyal, kreativ und begeisterungsfähig. Mit ihnen über ihre Interessen zu reden und zu diskutieren, wie sie Welt oder die sozialen Normen sehen, ist bereichernd.