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Mamablog: Leben mit behindertem KindAllein unter Menschen

Ein Pool voller Freundschaft: Wo Vorurteile und Berührungsängste einfach weggespült werden.

Ronja ist ein sehr offenes und kommunikatives Kind. Sie nutzt etwa Lautsprache, viele Gebärden sowie ein Kommunikationsgerät. Sie liebt es, neue Menschen kennen zu lernen, mit Kindern auf dem Spielplatz zu spielen, zu tanzen oder Schabernack zu machen. Kinder, die viel mit Menschen mit Behinderungen zu tun haben, lassen sich oft ohne grosse Vorurteile auf Ronja ein. Ein Beispiel: Letztens im Hallenbad machten wir am Beckenrand eine Pause und gebärdeten zusammen. Ein Mädchen schwamm zu uns und fragte: «Hat deine Tochter eine Behinderung?» Nachdem ich genickt hatte, erklärte sie mir, dass viele Kinder mit Behinderungen mit ihr die Schule besuchten und alle Kinder, egal ob mit oder ohne Behinderungen, die sogenannten Porta-Gebärden lernten. Das sind genau die Gebärden, die auch Ronja und ich verwenden. Daraufhin schwammen Ronja und das Mädchen zusammen und spielten miteinander. Solche Begegnungen machen mich immer sehr glücklich, und Ronja erzählt noch wochenlang ihrem Umfeld davon.

Suche nach Zugehörigkeit

Kinder, die selten mit Behinderungen in Berührung kommen, erlebe ich anders. Sie starren Ronja an, zeigen mit dem Finger auf sie, lachen sie aus oder schliessen sie schnell aus der Gruppe aus. Ich verurteile diese Kinder nicht, aber es schmerzt mich, zu sehen, wie Ronja sich dadurch schämt oder traurig wird. Diese Kinder verpassen die Chance, eine Erfahrung zu machen, die auch für sie bereichernd sein könnte: das Abbauen von Vorurteilen und Ängsten gegenüber Menschen, die nicht der sogenannten Norm entsprechen. Sie könnten auch eine neue Freundin gewinnen, die witzig, sozial und sehr empathisch ist.

«Ich habe mich immer allein unter Menschen gefühlt», schreibt Jasmin Dickerson, eine pflegende Mutter und Autistin mit ADHS, in ihrem Essay im Buch «Angry Cripples – Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus». Darin beschreibt sie ihre eigene Kindheit und Jugend, wie sie sich aufgrund ihres «Andersseins» nicht zugehörig fühlte und im Laufe der Jahre verinnerlichte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Zwischen Trotz, Verzweiflung und Schuldgefühlen taumelnd, fand sie erst nach ihrem Umzug nach Berlin endlich Freundinnen und Freunde, was sie weniger einsam machte. Doch Jasmin beschreibt auch, wie die Einsamkeit zurückkehrte, als ihre Tochter zur Welt kam. Ihre Tochter leidet unter einem sehr seltenen Syndrom und erlebt ähnliche Schwierigkeiten wie Ronja. Selbst nach sechs Jahren hat ihre Tochter noch nie eine Geburtstagseinladung erhalten, schildert die Mutter Jasmin.

Bislang hat meine Tochter kaum Einladungen zu Geburtstagen oder Partys erhalten. Sie bekommt auch keine Anrufe oder Whatsapp-Nachrichten, wie es bei ihrem älteren Bruder der Fall war, und auch keine Einladungen zum Treffen oder für Ausflüge – abgesehen von denen aus meinem engsten Freundeskreis. Ob sich meine Tochter dadurch einsam fühlt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, da sie diese Gefühle (noch) nicht verbal äussern kann. Dennoch spüre ich, wie sie nach sozialer Verbindung sucht und das Thema Freundschaft für sie immer wichtiger wird.

Wege zur Verbindung

Auch ich fühle mich oft einsam und isoliert, wenn ich mit meiner Tochter zusammen bin, ähnlich wie Jasmin Dickerson: «Ich wünsche mir Inklusion, dass sie Freund*innen hat, dass sie zu einer Gruppe gehört. Sie ist so ein soziales Kind, auch wenn sie es anders zeigt», schreibt sie und spricht mit damit aus dem Herzen. Ebenso teile ich ihre Ansicht, dass zu viel Druck auf mir lastet, da ich alle Bedürfnisse meines Kindes alleine abdecken muss und nirgendwo wirklich hineinzupassen scheine. Sie findet, dass das falsch ist: «Kinder, auch solche mit Behinderungen, brauchen soziale Kontakte ausserhalb ihres familiären Umfelds. Und ich brauche Entlastung», sagt Dickerson. Oft überkomme sie die Angst, dass sie auch in den nächsten 20 Jahren noch für die Betreuung ihres erwachsenen Kindes verantwortlich sein wird, wenn sie einmal etwas alleine unternehmen möchte.

Ich kenne diese Gedanken. Wer kümmert sich um Ronja, wenn ihr Vater und ich es nicht mehr können? Wie wird sie als erwachsene Frau Freundschaften und Beziehungen aufbauen können? Was bedeutet es für Ronja heute und in Zukunft, dass so viele Menschen Vorurteile und Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen haben? Wie wird sie ein Teil der Gesellschaft mit Partnerinnen und Freunden sein können, wenn sie immer wieder ausgeschlossen und behindert wird? Wie kann sie sich dabei weniger einsam fühlen? Die Weichen dafür würden sich bereits jetzt in ihrer Kindheit stellen. Doch wo wird Ronja Anschluss finden? Für eine Krabbelgruppe ist sie zu gross. Für eigenständiges Spiel in Gruppen, wie es für Kinder in ihrem Alter angeboten wird, benötigt sie zu viel Betreuung. Für einen Theaterbesuch ist Ronja zu laut. Für die Kinderdisco benötigt sie zu viel Ruhe. All diese Angebote richten sich hauptsächlich an durchschnittliche Kinder, und die wenigsten sind inklusiv. Selbst wenn sie für uns passen könnten, erleben wir darin oft schwierige Situationen. Die Konsequenz ist oft, dass wir lieber ganz darauf verzichten.

Ich bin davon überzeugt, dass wir alle mehr wie das Mädchen im Schwimmbad sein sollten, damit Inklusion gelingt und alle Menschen weniger einsam sind. Empathisch, offen und mit weniger Berührungsängsten. Dafür braucht es Räume, Schulen, Vereine, Theater und vieles mehr, wo Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenkommen können, wo alles «normal» sein darf, so wie es das Mädchen im Schwimmbad in ihrer Schule erlebt. Es braucht Orte, an denen es in Ordnung ist, wenn ein Kind zu laut ist, und für dieses Kind gibt es zum Beispiel einen Ruheort. Ich wünsche mir Begegnungsstätten, an denen Kinder ein Tablet um den Hals tragen dürfen, um zu kommunizieren, so wie Ronja, ohne dass die Erwachsenen den Verdacht haben, das Kind würde darauf nur gamen. Ich hoffe, es entstehen mehr Spielplätze, auf denen Kinder ungewohnte Laute und Bewegungen von sich geben dürfen, ohne angestarrt zu werden, wenn sie einen Rollstuhl fahren oder sogar im Teenager-Alter gefüttert werden müssen.

Jasmin Dickerson wünscht sich, dass mehr über die Art der Einsamkeit gesprochen wird, die durch das Normdenken in unserer Gesellschaft entsteht. Das wünsche ich mir auch. Und Sie, liebe Leserin oder lieber Leser?